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095 Sonnenuhr

Moderne Zeiten: Sonnenuhr und Smartphone

Klappsonnenuhr

Fundort

Dülmen

Kreis Coesfeld


Fundumstände

Kontext: Stadt

Datum: 30. März 2016


Objekt

Material: Elefantenelfenbein

Länge: 3,6 cm

Breite: 2,9 cm

Höhe: 0,25 cm


Datierung 

1600–1650

Epoche: Frühneuzeit

Stilepoche: Barock

Moderne Zeiten: Sonnenuhr und Smartphone

So stolz wie eine junge Frau heute ihr angesagtes Smartphone aus der Tasche ihrer Jeans zieht, um ein Date zu checken, so stolz nestelte vor fast 400 Jahren wohl ein junger Kavalier eine Klappsonnenuhr aus seinem Wams hervor, um seine Verabredung nicht zu versäumen. Einer dieser »solarbetriebenen« Zeitmesser stammt aus Dülmen.

Ursprünglich gehörte zu der Dülmener Sonnenuhr nicht nur das noch erhaltene achteckige Oberteil mit Ziffernblatt, sondern auch ein Unterteil mit Kompass. Beide waren durch ein Scharnier verbunden. Klappte man die Sonnenuhr auf, spannte sich ein Schattenfaden diagonal zwischen den beiden Hälften. Der Winkel des Fadens sollte dabei auf den Breitengrad des Aufenthaltsortes abgestimmt sein und die Uhr mithilfe des Kompasses korrekt in Nord-Süd-Richtung ausgerichtet werden. Dann konnte die Uhrzeit anhand der arabischen Zahlen im Doppelkreis abgelesen werden.

Unsere jungen Protagonisten benutzen beide einen in ihrer Epoche hochaktuellen High-End-Zeitmesser, um den Tagesablauf zu organisieren. Deren Konstruktion fußt jeweils auf neuesten Erkenntnissen der Wissenschaften. Auch weisen die spezielle Konstruktion und die geringe Größe der Reisesonnenuhr, genau wie beim Handy, auf die Mobilität ihrer Besitzer hin. Und ein modisch repräsentativer Charakter der Geräte ist ebenfalls bei beiden erwünscht: Statt schimmernder Kunststoffe und Aluminiumlegierungen galt im Barock das Elfenbein, aus dem auch unser Fundstück gefertigt wurde, als angesagtes Material in Kunst und Handwerk – insbesondere, wenn es mit bunten Farben akzentuiert wurde, wie Rückstände in den Ritzlinien des Dülmener Zifferblatts noch verraten. Obwohl es eines der wenigen erhaltenen Exemplare darstellt, erfreuten sich diese Sonnenuhren seit dem 16. Jahrhundert einer größeren Beliebtheit und tragen Züge eines frühen »Massenprodukts«. Im Vergleich zu den gleichzeitig aufkommenden, komplizierten mechanischen Taschenuhren, deren Ganggenauigkeit noch zu wünschen übrigließ, konnten sie viel einfacher, in größeren Stückzahlen und mit geringeren Kosten gefertigt werden. Ein solches handwerkliches Herstellungszentrum befand sich in Nürnberg und vielleicht auch ein kleines in Dülmen.

All das, was uns heute vertraut erscheint, war im Barock eine revolutionäre Neuerung. In der Geburtsstunde der modernen Wissenschaften führten Astronomie, Mechanik und Mathematik zu einem Weltbild, das mit den von der Kirche bisher propagierten Vorstellungen kaum vereinbar schien. Das Individuum lässt sich seinen Tagesablauf nicht mehr allein von Glocken und Kirchturmuhr diktieren, es gestaltet ihn zunehmend selbstständig auf der Basis eigener Zeitmesser. Die Stunde der modernen Gesellschaft hatte geschlagen.

Gerard Jentgens

Archiv

Zentrales Fundarchiv der LWL-Archäologie für Westfalen, Münster (nicht öffentlich zugänglich)

Weiterführende oder zitierte Literatur

Gerard Jentgens, Schönes Bein. Archäologie in Deutschland 5, 2016, 52.

Gerard Jentgens/Hans-Werner Peine, Wem die Glocke schlägt – 1200 Jahre Kirche und Siedlung in Dülmen. Archäologie in Westfalen-Lippe 2015, 2016, 79–83.

Alice Kaltenberger, Eine mit 1570 datierte Taschensonnenuhr von der Ruine Wildenstein bei Bad Ischl, OÖ. Jahrbuch des Oberösterreichischen Musealvereins 148/1, 2003, 165–186.

Nadine Nolde/Hans-Werner Peine, Von Lehrlings- und Meisterstücken – Messerherstellung im frühneuzeitlichen Dülmen. Archäologie in Westfalen-Lippe 2016, 2017, 209–213.

Bernd Thier, Eine beinerne Klappsonnenuhr aus der St. Lamberti-Kirche in Münster. Ausgrabungen und Funde in Westfalen-Lippe 9/B, 1995, 433–440.

Achteckige, beigefarbene Elfenbeinplatte auf der strahlenförmige Linien, zwei konzentrische Reise und Ziffern eingearbeitet wurden.

© LWL/Stefan Brentführer