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002 Pradnik-Keilmesser

Von der Balver Höhle ans Mittelmeer – der Neandertaler als Klimaflüchtling

Pradnik-Keilmesser

Fundort

Balve, Balver Höhle

Märkischer Kreis


Fundumstände

Kontext: Höhlenschicht

Datum: 1939


Objekt

Material: Kieselschiefer (Lydit)

Länge: 10,8 cm

Breite: max. 4,5 cm

Höhe: max. 2 cm


Datierung 

ca. 70.000 Jahre

Epoche: Mittelpaläolithikum

Kultur: Keilmessergruppen

Von der Balver Höhle ans Mittelmeer – der Neandertaler als Klimaflüchtling

Noch so ein unscheinbarer Stein, findet vermutlich der Nicht-Fachmann, dem höchstens die muscheligen Vertiefungen auffallen. Für jemanden, der sich mit der Zeit des Neandertalers beschäftigt, birgt er aber eine Fülle an Informationen!

Gefunden wurde das Stück schon 1939 in der Balver Höhle im nördlichen Sauerland, die über einen langen Zeitraum immer wieder von Menschen aufgesucht wurde und daher von überregionaler Bedeutung für die Archäologie ist. Von dort stammen viele weitere Steinwerkzeuge, die Abfälle von ihrer Herstellung und zahllose Tierreste, vor allem vom Höhlenbären. Sie gelangten vor dem ersten Kältehöhepunkt der letzten Eiszeit vor etwa 65.000 Jahren in die Höhle. Diese Steingeräte wurden vor allem aus dem ortsüblichen schwarzen Kieselschiefer gefertigt. Unter ihnen befanden sich viele sogenannte Keilmesser, die der Neandertaler vor etwa 50.000 bis 80.000 Jahren primär in Mittel- und Osteuropa nutzte. Typisch für Keilmesser sind ein stumpfer Rücken und eine gegenüberliegende, vor allem im oberen Bereich scharfe Kante. Der daraus resultierende Querschnitt ist keilförmig, was dem Gerätetyp den Namen gab. Diese Keilmesser waren perfekte Schlacht- oder Schneidewerkzeuge.

Olaf Jöris erkannte 1992 unter den Balver Keilmessern Stücke, die in einer ganz speziellen Weise nachgeschärft worden waren – so wie dieses Exemplar. Durch einen gezielten Schlag auf die Messerspitze ließ sich ein länglicher, klingenartiger Abschlag abtrennen, wodurch die durch Gebrauch stumpf gewordene Schneidekante wieder scharf wurde. Diese Methode wird nach einer wichtigen südpolnischen Fundregion als »Pradnik-Methode« bezeichnet.

Pradnik-Keilmesser kommen in Mitteleuropa an einigen Neandertalerplätzen vor. Sie scheinen alle über 65.000 Jahre alt zu sein. Danach breiteten sich wieder große Eisschilde aus, die von Norden bis nach Norddeutschland und von Süden weit bis ins Alpenvorland reichten. Das Klima war kalt und trocken, es gab nur wenige Pflanzen und Tiere. Dies scheint selbst dem Neandertaler zu viel gewesen zu sein, obwohl er als einzige Menschenart nicht aus Afrika einwanderte, sondern ein echter Europäer und dadurch eher an die Kälte angepasst war. Jedenfalls gibt es aus diesem Zeitraum in Mitteleuropa keine überzeugenden Siedlungsspuren. 

Überraschenderweise finden sich kurze Zeit später einige Pradnik-Keilmesser in Südfrankreich, die von den mitteleuropäischen Stücken nicht zu unterscheiden sind. Waren die Neandertaler als Klimaflüchtlinge nach Süden ausgewichen und hatten ihre traditionellen Steingeräte mitgenommen, die dann dort vor etwa 65.000 bis 55.000 Jahren modern waren? Es hat ganz den Anschein.

Michael Baales

Weiterführende oder zitierte Literatur

Michael Baales/Olaf Jöris, Wohin es die mitteleuropäischen Neandertaler zog, als es richtig kalt wurde. In: Matthias Wemhoff/Michael M. Rind (Hrsg.), Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland. Ausstellungskatalog Berlin (Petersberg 2018) 58–61.

Olaf Jöris, Pradniktechnik im Micoquien der Balver Höhle. Archäologisches Korrespondenzblatt 22, 1992, 1–12.

Olaf Jöris, Zur chronographischen Stellung der spätmittelpaläolithischen Keilmessergruppen. Der Versuch einer kulturgeographischen Abgrenzung einer mittelpaläolithischen Formengruppe in ihrem europäischen Kontext. Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 84 (2003), 2004, 49–153.

Olaf Jöris, Keilmesser. In: Harald Floss (Hrsg.), Steinartefakte – Vom Altpaläolithikum bis in die Neuzeit. Tübingen Publications in Prehistory (Tübingen 2012) 297–308.

Lutz Kindler, Die Rolle von Raubtieren in der Einnischung und Subsistenz jungpleistozäner Neandertaler. Archäozoologie und Taphonomie der mittelpaläolithischen Fauna aus der Balver Höhle (Westfalen). Monographien des Römisch-Germanischen Zentralmuseums 99 (Mainz 2012).