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096 Glaskelche

Gläser »à la façon de Venise« – Zeichen bürgerlichen Luxus

Drei feine Glaskelche mit geschwungener Form, von denen zwei Exemplare aufwendig gestaltete Stiele mit blauen Glaselementen aufweisen.

© LWL/Stefan Brentführer

Glaskelche

Fundort

Paderborn, Kötterhagen

Kreis Paderborn


Fundumstände

Kontext: Kloake eines Wohnhauses

Datum: 1995–1996


Objekt

Material: Glas

Höhe: 15,4–16,2 cm

Durchmesser: Rand 7,4–9,0 cm, Boden 8,0–8,4 cm


Datierung 

1. Hälfte 17. Jahrhundert

Epoche: Frühneuzeit

Stilepoche: Barock


Import

Herstellungsort: Deutschland oder Niederlande

Herstellungszeit: erste Hälfte 17. Jahrhundert

Gläser »à la façon de Venise« – Zeichen bürgerlichen Luxus

Kloaken, Abfallgruben und Latrinen sind – so unappetitlich sie auch sein mögen – großartige Fundgruben bei archäologischen Ausgrabungen: Lange vor dem Beginn der Mülltrennung landete alles, was zu Bruch ging oder nicht mehr gebraucht wurde, in diesen Gruben. So fand man in der Paderborner Innenstadt in Latrinen neben den Wohnhäusern außer Keramik, Knochen, Metall, Leder und Holz auch besondere Glasscherben, die zu annähernd vollständigen Gefäßen zusammengesetzt werden konnten. Dieser Abfall verrät, dass hier im Herzen der seit dem Mittelalter um den Dom gewachsenen Stadt reiche Kaufleute siedelten, die sich solchen Luxus leisten konnten.

Ein Grundstück ließ sich nach der Auswertung schriftlicher Quellen der im Getreidehandel tätigen Bürgermeisterfamilie Koch zuordnen, die im 17. Jahrhundert zwar nicht zum Adel, aber zum hohen Bürgertum zählte. Und zu der gehobenen Haushaltsausstattung des Paderborner Bürgertums dieser Zeit gehörten Gläser aus feiner, farbloser Glasmasse mit geschwungener Form und fantasievoller Ausführung – wie unsere drei Exemplare, die aus einer Kloake des Bürgermeisters stammen.

Die Herstellung der durchsichtigen, besonders reinen Glasmasse und der vielfältigen Formen und Dekore hatten Glasmacher in Venedig entwickelt. Ihre Produkte waren schon im Spätmittelalter begehrte Luxusgüter in adligen Kreisen. Die klare Glasmasse gewannen sie nach antiken Rezepturen mit einer Sodazusammensetzung. Das Geheimnis dieser speziellen Techniken und die künstlerischen Fähigkeiten hüteten die Glashütten auf den venezianischen Inseln über viele Generationen, den Glasbläsern war sogar das Reisen verboten und Verrat wurde mit schweren Strafen sanktioniert. Dennoch konnten immer wieder Handwerker abgeworben werden, sodass das Wissen um die Glaskunst nach venezianischer Art im 16. Jahrhundert auch in die Gebiete nördlich der Alpen vorgedrungen war. Zahlreiche Glashütten produzierten jetzt Glas à la façon de Venise – zunächst in Belgien, in den Niederlanden und in Nordfrankreich, später auch in anderen europäischen Gebieten.

Nicht nur Trinkgefäße, wie die hier vorgestellten Kelche mit besonders aufwendig gestalteten Stielen, sondern auch andere Formen, wie Teller, Schalen und Deckel, wurden mit den speziellen Techniken der venezianischen Glasproduktion hergestellt – oder zumindest in Anlehnung daran. Die Kunsthandwerker ahmten die prächtigen Formen nach und versuchten, die Farbigkeit, die Transparenz und die Zusammensetzung der Glasmasse zu imitieren. Schließlich ließen sie das reine Plagiieren hinter sich und entwickelten eine eigene Produktion mit einem speziellen Formenspektrum, das meist einfach von den venezianischen Vorbildern zu unterscheiden ist.

Sveva Gai

Weiterführende oder zitierte Literatur

Sveva Gai, Der Glaskomplex am Falkenhof in Rheine. Ein Spiegel adeligen Lebens zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. In: Gaby Hülsmann, Glas. Funde aus einem unterirdischen Kanalsystem. Falkenhof Museum, Bestandskatalog 1 (Regensburg 2013) 77–108.

Sveva Gai, »À la façon de Venise«: Zur Geschichte des Begriffs und zur Verbreitung von Gläsern in venezianischer Art in Westfalen. In: Sophie Wolf/Anne de Pury-Gysel (Hrsg.), Annales du 20e Congrès de l’Association Internationale pour l’Histoire du Verre. Fribourg/Romont 7. bis 11. September 2015 (Rahden 2017) 512–521.

Gaby Hülsmann, Glas. Funde aus einem unterirdischen Kanalsystem. Falkenhof Museum. Städtische Museum Rheine, Bestandskatalog 1 (Regensburg 2013).

Marianne Moser/Judith Stahl, Gläsernes Trinkgeschirr vom Kötterhagen. Ausgrabungsfunde von Tafelgläsern des 17. und 18. Jahrhunderts aus einer Kloake der Familie Koch am Kötterhagen 17. In: Sven Spiong/Matthias Wemhoff (Hrsg.), Scherben der Vergangenheit. Neue Ergebnisse der Stadtarchäologie in Paderborn. MittelalterStudien 8 (München 2006) 147–170.

Anna-Elisabeth Theuerkauff-Liederwald, Venezianisches Glas der Veste Coburg. Die Sammlung Herzog Alfreds von Sachsen-Coburg und Gotha (1844–1900) (Lingen 1994).